Abstract
Die bedeutendste Veränderung in den neuen ESC-Leitlinien zur kardiovaskulären Prävention von 2021 betrifft die Risikoevaluation gesunder Menschen: Durch die Einführung von SCORE2 wird eine neue epidemiologische Studienbasis für die Risikoeinschätzung eingeführt, die erstmals die Berechnung der kardiovaskulären Erkrankungswahrscheinlichkeit und der kardiovaskulären Mortalität erlaubt. Zudem ermöglicht SCORE2 OP nun auch eine zuverlässige Risikobestimmung bei Menschen oberhalb des 65.Lebensjahres bis in die 9.Lebensdekade. Die Altersdynamisierung der Risikoschwellen für hohes und sehr hohes kardiovaskuläres Risiko trägt dem Gedanken der Lebenszeitexposition Rechnung, führt aber evtl. zu einer höheren Zahl behandlungspflichtiger Patienten. Mit dem 2‑Step-Approach empfiehlt die ESC eine pragmatische Herangehensweise an die Risikofaktoreinstellung: Während in Step1 basale Präventionsziele für alle Patienten vorgegeben werden, soll der Arzt im Gespräch mit dem Patienten in Abhängigkeit von 10-Jahres-Risiko, Lebenszeitnutzen, Begleiterkrankungen und Patientenwunsch die optimalen Präventionsziele besprechen und anschließend anstreben. Leider werden in den Leitlinien die Kriterien, wer für die optimalen Präventionsziele geeignet ist, nicht klar definiert. Damit besteht die Gefahr einer subjektiven Fehleinschätzung seitens der behandelnden Ärzte, die möglicherweise vielen Patienten den Nutzen einer optimalen kardiovaskulären Prävention vorenthält. Der von den Autoren der Leitlinie hervorgehobene Gedanke des „Freedom of Choice“ könnte insofern zum Bumerang werden und zur Verwässerung der Implementierung einer optimalen Prävention führen. Hierzu und zu möglichen Verschiebungen beim Anteil behandlungsbedürftiger Patienten in der Primär- und Sekundärprävention sind in den nächsten Jahren Längsschnittstudien erforderlich, um Umsetzungsqualität und Prognosewirksamkeit zu objektivieren.
Schlüsselwörter: SCORE2, 2‑Step-Approach, Risikoschwelle, Hyperlipidämie, Lebensstilrisikofaktor
Auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie überschreiten die globalen jährlichen Todesfälle an kardiovaskulären Erkrankungen (18,6 Mio. Tote 2019 [1]) die gesamte pandemiebedingte Mortalität (6,3 Mio. Tote) um etwa das 3fache. Kardiovaskuläre Prävention bleibt damit eine der zentralen Interventionen zur Verlängerung der weltweiten Lebenserwartung.
Die 2021 erschienenen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) zur kardiovaskulären Prävention [2] sind ein Update der 2016 publizierten Leitlinien [3]. Eine Übersetzung der ESC-Pocket-Leitlinien in deutscher Sprache mit Aufführung von Empfehlungsgraden ist über die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie– Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK) erhältlich.
Mit der neuen Leitlinienversion wurden nicht nur medikamentöse Therapieempfehlungen in der Sekundärprävention an die aktuelle Studienlage angepasst, sondern auch z. T. fundamentale Neuerungen in den Bereichen Risikoevaluation und individualisierte Therapieumsetzung eingeführt. Zu den großen strukturellen Änderungen im Jahr 2021 gehören:
Das neue SCORE2 System:
Erstmals wird für die Risikobeurteilung in der Primärprävention nicht mehr das 10-Jahres-Mortalitätsrisiko berechnet, sondern das kombinierte Morbiditäts-Mortalitäts-Risiko (Myokardinfarkt, Apoplex, kardiovaskulärer Tod). Als Datengrundlage dienen für SCORE2 insgesamt 45Kohortenstudien aus 13Ländern mit insgesamt 677.684 Teilnehmern aus der Emerging Risk Factor Collaboration (ERFC) und der UK Biobank (UKB) [4].
Die altersadjustierte Risikokategorisierung:
Während in den Präventionsleitlinien 2016 als Cut-off für Hochrisikopatienten in der Primärprävention ein 10-Jahres-Mortalitätsrisiko von > 10 % festgelegt wurde, ist die Schwelle zur Einordung als Patienten mit hohem Risiko oder Patienten mit sehr hohem Risiko nun altersabhängig: Rationale für diese Empfehlung ist das Konzept der kumulativen Risikofaktorexposition. Bei jungen Patienten kann daher mit einer aggressiven Risikofaktormodifikation über die Restlebenszeit ein größerer Benefit erreicht werden als bei älteren Patienten. Daher sollten die Behandlungsschwellen bei jüngeren Patienten niedriger sein als bei älteren.
Der 2‑Step-Approach:
Während in der 2016er Leitlinie ein Behandlungsziel für jede Risikogruppe angegeben wurde, unterscheiden die Autoren nun zwischen „Präventionszielen für alle“ und „optimalen Präventionszielen“ für selektierte Patienten. Vor der Entscheidung für eine intensivierte Risikofaktortherapie sollen das 10-Jahres Erkrankungsrisiko, das Lebenszeitrisiko sowie der Behandlungsnutzen, Begleitkrankheiten, Gebrechlichkeit und Patientenwunsch evaluiert werden.
Insgesamt sind die neuen Leitlinien der ESC durch diese Veränderungen komplexer geworden. Den Autoren ist dieser Umstand bewusst, und die Umsetzung der Leitlinien wird letztlich erst durch die Implementierung elektronischer Expertentools für die Praxis erleichtert werden können. Prof. Visseren als Vorsitzender der Leitlinienkommission meinte dazu: „Wir stimmen vollständig zu, dass für die Implementierung dieser Leitlinien elektronische Entscheidungsunterstützungssysteme, die mit der elektronischen Patientenakte bei der stationären oder ambulanten Versorgung verlinkt sind, dazu beitragen können, die Zeit für Risikokalkulation pro Patient zu verkürzen und manuelle Eingabefehler zu vermeiden. Individuelle Entscheidungsempfehlungen könnten dann dem Gesundheitsdienstleister und dem Patienten automatisiert zur Verfügung gestellt werden. Derartige elektronische Werkzeuge werden derzeit entwickelt und implementiert, und wir hoffen sehr, dass diese Leitlinien die Entwicklung von Decision-Support-Systemen auf der Basis elektronischer Patientenakten beschleunigen und damit eine personalisierte kardiovaskuläre Risikoreduktion unterstützen.“ (F.Visseren, persönliche Kommunikation, 2022).
1. Individuelle Risikoklassifikation
1.1 Vorgehen bei der individuellen Risikoeinschätzung nach SCORE2
Die individuelle Risikoeinschätzung bildet die Basis präventionsmedizinischer Maßnahmen. Sie wird in der neuen Leitlinie für alle Personen mit einem kardiovaskulären Risikofaktor sowie für alle Männer > 40Jahren und alle Frauen > 50Jahren oder nach der Menopause empfohlen. Für diese klinisch gesunden Menschen erfolgt die Einschätzung des kombinierten Morbiditäts‑/Mortalitätsrisikos mittels der SCORE2-Tabellen. Deutschland ist als Land mit moderatem Risiko –vergleichbar mit Österreich, Finnland, Schweden, Irland, Griechenland, Italien, Portugal u. a.– eingeordnet.
In SCORE2 wird geschlechtsdifferenziert für Personen zwischen 40 bis 69 und 70 bis 89Jahren (SCORE2-OP) das individuelle Risiko angegeben, innerhalb von 10Jahren an einer kardiovaskulären Erkrankung zu erkranken oder zu versterben. Dazu werden in jeder Alterskategorie Raucherstatus, Non-HDL-Cholesterol und systolischer Blutdruck kategorisiert abgefragt. Der im entsprechenden Feld abgelesene Wert ist farbig in grün, gelb und rot hinterlegt, um die altersadjustierte Einordnung in die Risikokategorien „geringes bis moderates CVD-Risiko“, „hohes CVD-Risiko“ und „sehr hohes CVD-Risiko“ zu erleichtern. Während in den alten Präventionsleitlinien bei > 10 % 10-Jahres-Mortalitätsrisiko unabhängig vom Alter die Einordnung in die „sehr hohes CVD-Risiko“-Kategorie erfolgte, liegt nun die Schwelle bei < 50Jahren bei ≥ 7,5 %, zwischen 50und 69Jahren bei ≥ 10 % und bei ≥ 70Jahren bei ≥ 15 % Morbiditäts‑/Mortalitätsrisiko. Die altersabhängige Einordnung reflektiert dabei den Aspekt der Lebenszeitexposition („lifetime risk exposure“), die bei jüngeren Patienten auch bei niedrigerem Risikoprofil über die größere verbleibende Lebenszeit zu einem hohen Gesamtrisiko führen kann. Zur einfachen Risikokalkulation empfiehlt sich die digitale Auswertung über Risikokalkulatoren wie www.u-prevent.com, die auch eine Visualisierung des Therapieeffekts erlauben. Die entsprechenden Tools der ESC auf www.heartscore.org sind inzwischen ebenfalls aktualisiert und um individuelle Patientenempfehlungen auf der Basis der neuen Leitlinie ergänzt worden. Insgesamt ist aber die Risikokalkulation für den Anwender in Klinik und Praxis komplexer geworden, und digitale Systeme zur Automatisierung der Berechnung und altersadjustierten Klassifikation in Risikogruppen werden essenziell sein.
1.2 Kritische Bewertung der neuen Kalkulationsgrundlage von SCORE-2 und SCORE-OP
Zwei wesentliche Veränderungen im Rahmen der neuen Risikokalkulation verdienen eine kritische Betrachtung:
1. Die neue Kohortengrundlage für SCORE2
Das alte Systematic COronary Risk Evaluation (SCORE) System geht auf insgesamt 12europäische prospektive Kohortenstudien aus den Jahren 1972 bis 1986 (Zeitpunkt der Patientenrekrutierung) zurück, darunter die deutsche MONICA-Studie. Aus dieser Datengrundlage resultieren gewisse Nachteile des SCORE-Systems, die über die Jahre immer deutlicher hervortraten:
SCORE reflektiert die Bevölkerungszusammensetzung und Risikofaktorexposition zum Zeitpunkt des Probandeneinschlusses. Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung seit 1986 durch demografische Entwicklung und Migration bleiben unberücksichtigt.
SCORE eignet sich zudem nur zur Prädiktion der kardiovaskulären Mortalität, sodass die tatsächliche Krankheitslast („burden of disease“) unterschätzt wird.
SCORE wurde nicht systematisch rekalibriert, d. h. an die sich verändernden kardiovaskulären Morbiditäts- und Mortalitätszahlen angepasst. Da beide für die koronare Herzkrankheit in vielen Ländern rückläufig sind, wird das tatsächliche Risiko durch SCORE eher überschätzt.
Um die Risikokalkulation auf eine aktuelle und breite epidemiologische Basis zu stellen, haben die SCORE2 Working Group der ESC und die ESC Cardiovascular Risk Collaboration 44Kohortenstudien aus 13Ländern der Emerging Risk Factor Collaboration (ERFC) und die UK Biobank-Studie (UKB) mit insgesamt 677.684 Teilnehmern als neue und aktuellere Kalkulationsgrundlage für das Risikoassessment verwendet [4]. Die Einteilung der europäischen Länder in 4 unterschiedliche Risikoregionen erfolgte auf der Basis kardiovaskulärer Morbiditäts- und Mortalitätsdaten von über 10 Mio. Menschen.
Zur Validierung wurden die abgeleiteten Risikokalkulationsalgorithmen an externen Patientenkohorten validiert– darunter mit der MONICA-KORA-Studie, der Heinz-Nixdorf Recall-Studie, der EPIC-CVD-Studie und der Gutenberg Health Study auch 4 bekannte deutsche Kohortenstudien. Dabei ergaben sich insgesamt C‑Indizes als Maß der Prädiktionsgüte zwischen 0,67 und 0,81. Für Deutschland lagen die C‑Indizes in den Validierungskohorten zwischen 0,683 und 0,781 weiter gestreut als in anderen europäischen Ländern [4].
2. Die Risikokalkulation auf der Basis tödlicher und nichttödlicher kardiovaskulärer Ereignisse
Bei SCORE wurde bisher nur die 10-Jahres-Mortalität an einem kardiovaskulären Ereignis berechnet. Dem Vorteil einer eindeutigen ereignisbasierten Berechnungsgrundlage stand als Nachteil gegenüber, dass man bisher auf eine Schätzung der individuellen Krankheitsprävalenz für kardiovaskuläre Erkrankungen angewiesen war. Es galt bisher die Faustformel bei Männern Mortalität × 3 = Morbidität und bei Frauen Mortalität × 4 = Morbidität (s.S. 2325 in [3]).
Tragende Gründe für die Angabe eines Mortalitätsrisikos im alten SCORE-System waren:
Die aktuelle Erfassung nichttödlicher Ereignisse beruht auf sich ändernden klinischen Ereignisdefinitionen und ggf. sensitiveren Assays (s.Universal Definition of Myocardial Infarction [5, 6]). Daher entspricht die Prävalenz dieser nichttödlichen Ereignisse in den SCORE zugrunde liegenden Studien nicht der Prävalenz nach aktueller Definition.
Durch die Festlegung auf den Endpunkt „Mortalität“ war die Rekalibrierung von SCORE auf sich dynamisch verändernde länderbezogene kardiovaskuläre Mortalitätsraten einfach. Die schlechtere Datenqualität erlaubt dies für nichttödliche Ereignisse nicht mit gleicher Sicherheit.
Als Vorteile eine Morbiditäts- und Mortalitätskalkulation bei der Risikoeinschätzung wird v. a. genannt, dass Krankheitsvermeidung als primäres Ziel aller Präventionsmaßnahmen angesehen werden kann und daher die bessere Zielgröße darstellt.
Nimmt die Zahl behandlungsbedürftiger Patienten durch den neuen Ansatz deutlich zu? Frank Visseren verneint auf Nachfrage diese Sorge: „In der Altersgruppe zwischen 50bis 69Jahren entspricht ein 10-Jahres-Mortalitätsrisiko von 5 % nach SCORE1 im Mittel einem 10-Jahres-Risiko einer tödlichen oder nichttödlichen kardiovaskulären Erkrankung von 10 % nach SCORE2. Daher dürften in etwa die gleiche Zahl an Patienten über der Hochrisikoschwelle liegen und eine Behandlung benötigen.“ (Vgl. Supplementary Fig.15 in [4]) Unterhalb der Altersgrenze von 50Jahren dürfte die Zahl der Patienten mit Indikation zur Statintherapie durch die niedrigere Schwelle eines 10-Jahres-Ereignisrisikos von > 7,5 % allerdings deutlich zunehmen.
3. Die Altersabhängigkeit der Risikoklassifikation
Den Autoren der 2016er ESC-Leitlinie waren altersabhängige Nachteile von SCORE bereits klar:
Die Unterschätzung eines hohen relativen kardiovaskulären Risikos bei jungen Menschen durch die altersbedingt sehr niedrigen Mortalitätsraten und
die Überschätzung des relativen Risikos bei alten Patienten, bei denen die Mortalität bereits sehr hoch ist. Zudem erlaubte SCORE keine Einordnung von Patienten > 65Jahre– eine Einschränkung, die nun durch SCORE-OP behoben wurde.
Auch insgesamt überschätzte SCORE die Mortalität in allen Altersgruppen aufgrund sinkender kardiovaskulärer Sterblichkeit in den europäischen Ländern deutlich.
Den Aspekt der lebenszeitbezogenen Risikoadjustierung bringt die neue 2021er Leitlinie durch die altersdynamisierten Schwellen für die Eingruppierung in „high risk“ und „very high risk“ ein (Abb.1).
Open in a new tab
Die Auswirkungen der altersabhängigen Behandlungsschwellen auf die Zahl der in der Primärprävention behandlungsbedürftigen Patienten untersuchte Mortensen kürzlich anhand der populationsbasierten Copenhagen General Population Study mit 66.909 Teilnehmern [7]. Für den Vergleich der „Therapiebedürftigkeit“ in der Primärprävention verwendete Mortensen den Cut-off KlasseI Indikation für Statine. Bei Menschen zwischen 40und 69Jahren hatten 4 % der Dänen nach der ESC-Leitlinie 2021 eine Klasse-I-Statinindikation im Vergleich mit 34 % nach der US-ACC/AHA-Leitlinien, 26 % nach UK-NICE und 20 % nach den 2019er European-ESC/EAS-Leitlinien. Aus der geringeren Sensitivität der ESC-Leitlinien schließt Mortensen, dass die Behandlungsschwelle in der Primärprävention von 7,5 % auf 5 % gesenkt werden sollte [7].
Es ist momentan unklar, ob diese Kalkulation nur Niedrigrisikoregionen betrifft oder auch in Deutschland als einer Region mit moderatem Risiko zu wenige Patienten in der Primärprävention eine Behandlungsindikation haben. Bei der Diskussion sollte aber beachtet werden, dass auch die aktuellen ESC-Leitlinien eine großzügigere Statintherapie auf individueller Basis als Klasse-IIa-Indikation ermöglichen: Eine Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren sollte bei anscheinend gesunden Menschen erwogen werden, die ein hohes Risiko haben (SCORE2 2,5 bis < 7,5 % für Alter unter 50Jahren; SCORE2 5bis < 10 % für Alter zwischen 50 und 69Jahren). Die Ergebnisse der Mortensen-Studie sollten aber ein Anlass sein, auch in Deutschland die Auswirkung der neuen ESC-Leitlinien auf die Therapiepraxis in der Primärprävention anhand aktueller Populationsstudien zu überprüfen.
1.3 Der 2-Step-Approach– Fluch oder Segen?
Einer der kontroversesten Aspekte der neuen Leitlinien ist die 2021 eingeführte Empfehlung des 2‑Step-Approach, der Präventionsmaßnahmen in basale Präventionsziele für alle Patienten und in intensivierte Präventionsziele für ausgewählte Patienten einteilt. Kriterien, die optimalen Präventionsziele (engl. „final prevention goals“) anzustreben, sind dabei:
das verbleibende 10-Jahres-Ereignisrisiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und Tod,
das lebenslange kardiovaskuläre Erkrankungsrisiko und der Behandlungsnutzen gemessen anhand der gewonnenen CVD-freien Lebensjahre,
Komorbiditäten und Gebrechlichkeit,
Präferenzen der Patienten.
Während Hausärzte sich darüber freuen werden, dass ihnen die Leitlinien nun offiziell erlauben, auch KHK-Patienten mit einem Ziel-LDL‑C von < 70 mg/dl einzustellen, fürchten Kardiologen, dass ihre Empfehlungen für die strengeren LDL-C-Ziele von < 55 mg/dl keine Beachtung in der Nachsorge mehr finden werden. Die Empfehlung, z. B. die Zahl der individuell gewonnenen Lebensjahre im Verhältnis zur Therapieintensität zu berechnen, ist in der deutschen Versorgungssituation unrealistisch. Für Komorbiditäten und „Frailty“ sind in der Leitlinie keine Kriterien genannt, die ein Verbleiben bei den basalen Präventionszielen rechtfertigen. Dies kann zu inkonsistenten Entscheidungen führen. Die Präferenzen der Patienten in die Entscheidung einzubeziehen setzt einen korrekt aufgeklärten Patienten voraus. Dies mag in einzelnen Zentren oder Rehabilitationseinrichtungen erreichbar sein, ist aber auch in Hinsicht auf die limitierten zeitlichen Kapazitäten Wunschdenken in der Breite der hausärztlichen Versorgung.
Es bleibt abzuwarten, welche Folgen die Empfehlungen für die Zielwerterreichung z. B. beim LDL‑C haben werden. Klar ist auch, dass die ESC Lipid Management Guidelines [8] nur ein einziges LDL-C-Ziel –nämlich < 55 mg/dl– für Patienten mit manifester KHK angeben und sich daher die Frage nach einer Harmonisierung der Empfehlungen stellt.
2. Individuelle Prävention
2.1 Übersicht über Änderungen in der individuellen medikamentösen Prävention
Zur medikamentösen Prävention ist eine Reihe wichtiger Änderungen mit Relevanz für die Praxis eingeführt worden:
Bei Patienten mit manifester Atherosklerose, die unter Statin + Ezetimib nicht das LDL-C-Ziel erreichen, wird eine Kombinationstherapie mit PCSK9-Inhibitor empfohlen (KlasseI).
Bei Diabetikern > 40Jahre mit hohem kardiovaskulärem Risiko wird nun eine LDL-C-Reduktion um ≥ 50 % und ein LDL-C-Ziel von < 70 mg/dl empfohlen (KlasseI).
Bei hypertensiven Patienten im Alter zwischen 18 und 69Jahren sollte in der Regel ein systolischer Zielblutdruck von 120–130 mm Hg angestrebt werden (KlasseI). Bei allen Hypertonikern soll ein diastolischer RR < 80 mm Hg angestrebt werden (KlasseI).
Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes soll immer ein SGLT-2-Inhibitor eingesetzt werden (KlasseI).
Bei Patienten mit niedrigem Blutungsrisiko und hohem ischämischem Risiko sollte die Erweiterung der antithrombozytären Therapie um einen zweiten P2Y12 Inhibitor erwogen werden (Klasse IIa).
2.2 Dyslipidämie
Die Empfehlungen für die Dyslipidämietherapie sind geprägt von dem Grundgedanken des Lifetime-exposure-Konzepts: Danach ist es entscheidend für das Auftreten einer manifesten atherosklerotischen Erkrankung, wie lange welche LDL-C-Konzentration auf das Gefäßsystem einwirkte [9]. Bei Überschreiten eines Expositionszeit × LDL‑C-Produktes von ca.5000 mg/dl* Jahre wird die atherosklerotische Erkrankung in der Regel manifest.
Dieses Konzept hat wesentliche Folgen für die Präventionsmedizin: Es macht damit plötzlich Sinn, bereits frühzeitig im Leben bei Menschen mit hoher LDL-C-Exposition, aber noch niedrigem kardiovaskulärem Gesamtrisiko eine LDL-senkende Therapie zu initiieren. Einzelne Autoren diskutieren bereits den Nutzen einer „vaccination-like strategy“ mit 1‑mal jährlichen Inclisiran-Injektionen beginnend ab dem 30Lebensjahr, die zu einer 52 % Reduktion der Inzidenz atherosklerotischer Erkrankungen führen würde (B.Ference: NATURE-PCSK‑9 Studie, ESC Congress 2021).
Erstmals dokumentiert die neue Präventionsleitlinie daher den Lebenszeitgewinn durch LDL-C-Reduktion um 40 mg/dl (≈ 1 mmol/l) in Abhängigkeit vom individuellen Risiko und Alter in einer übersichtlichen Tabelle. Damit kann der prognostische Nutzen einer Therapie für den Patienten anschaulich illustriert werden. Erreicht man z. B. bei einem 53-jährigen Nichtraucher mit art. Hypertonie (syst. RR 160 mm Hg) und einem Non-HDL-Cholesterin von 230 mg/dl eine Reduktion um 120 mg/dl (ca.50 %), so kann eine statistische Zunahme der Lebensjahre ohne kardiovaskuläre Erkrankung von 3* 1,5Jahre = 4,5Jahren erwartet werden (vgl. Abb.2)!
Open in a new tab
Entsprechend dem Konzept des Lebenszeitrisikos wurden in den neuen Leitlinien auch die Schwellen für die LDL-Senkung in der Primärprävention neu adjustiert. So empfehlen die Leitlinien nun auch in der Primärprävention bei Patienten mit sehr hohem Risiko, aber ohne FH eine Kombinationstherapie mit einem PCSK9-Inhibitor, falls das LDL-C-Ziel mit der maximal verträglichen Dosis eines Statins und Ezetimib nicht erreicht werden kann (IIb). In der Sekundärprävention wird bei Nichterreichung der LDL-Ziele die Behandlung mit einem PCSK9-Inhibitor aufgrund der vorliegenden Outcome-Studien (Fourier und Odyssey Outcome [10, 11]) nun als Klasse-IA-Empfehlung zwingend empfohlen. Zwar wird dies in der Umsetzung aufgrund der aktuell hohen Jahrestherapiekosten und restriktiver KV-Empfehlungen sicherlich noch zu Friktionen führen, wissenschaftlich ist der prognostische Zusatznutzen aber gesichert.
Hinsichtlich der Therapie der Hypertriglyzeridämie (> 135 mg/dl) bei Patienten mit hohem oder sehr hohem Gesamtrisiko (SCORE2) empfiehlt die neue Präventionsleitlinie den Einsatz von Omega-2-Fettsäuren (z. B. Eicosapentaensäure 2* 2 g/die) nur mit einer relativ schwachen „kann erwogen werden“ Klasse-IIb-Empfehlung. Damit wird der heterogenen Evidenzlage bei PUFAs („polyunsaturated fatty acids“) Rechnung getragen mit der positiven REDUCE-IT-Studie einerseits und der komplett neutralen STRENGTH-Studie andererseits [12, 13]. Es wird kontrovers diskutiert, ob die unterschiedlichen Vergleichssubstanzen (Mineralöl bei REDUCE-IT und Maisöl bei STRENGTH) die verschiedenen Ergebnisse erklären. In FDA Hearings stellte sich heraus, dass Mineralöl vermutlich kein neutrales Placebo ist, sondern a.e. aufgrund einer verminderten Statinresorption durch die gastrointestinale Relaxation zu einer LDL-Zunahme um 10,2 %, einer apoB-Zunahme um 7,8 %, und einer hs-CRP-Zunahme um 32 % führt. Daher lässt sich aktuell keine Klasse-I-Empfehlung aus den widersprüchlichen Studien ableiten.
Neben den traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren sollte einmalig im Leben der spontan kaum variable Lipoprotein(a)-Spiegel gemessen werden. In einer UK Biobank-Analyse zeigte sich bei einer Höhe von 100 nmol/l ein Anteil von 5,8 % des Gesamtrisikos. Bei einer pharmakologischen Reduktion des Lp(a) um 80 % wird in einer zurzeit laufenden Studie eine Senkung des atherosklerotischen kardiovaskulären Gesamtrisikos um 20 % und des KHK-Risikos um 24,4 % erwartet (HORIZON, Pelacarsen, Antisense Oligonukleotid (ASO)) [14]. Durch weitere innovative Medikamente wie anti-sense siRNA (z. B. Olpasiran), die sich momentan in der Phase-III-Testung befinden, konnte eine Reduktion der Lp(a)-Konzentration um 71–97 % über mehrere Monate erreicht werden [15].
2.3 Arterielle Hypertonie
In den letzten Jahren haben Studien gezeigt, dass die lineare Senkung des Risikos kardiovaskulärer Ereignisse auch bei RR-Werten unter 140 mm Hg systolisch fortgesetzt wird [16]. Daraus ergibt sich, dass besonders bei jüngeren Patienten eine weitgehend normotensive RR Einstellung angestrebt werden sollte. Im Vergleich zu den 2016er Leitlinien wurde daher der Zielbereich für die meisten Patienten im Alter zwischen 18und 69Jahren auf systolische Werte zwischen 120 und 130 mm Hg und auf diastolische < 80 mm Hg festgelegt. Der Blutdruck sollte medikamentös nicht unter 120/70 mm Hg gesenkt werden, da dies wiederum mit einer erhöhten Komplikationsrate assoziiert ist.
2.4 Metabolisches Syndrom: Übergewicht, Adipositas und Diabetes mellitus
Übergewicht und Adipositas zählen zu den kardiovaskulären Risikofaktoren, deren Inzidenz und Prävalenz in der westlichen Welt am stärksten zunehmen. Seit 1975 hat sich der Anteil adipöser Menschen an der Allgemeinbevölkerung mehr als verdoppelt. Zirka 8 % aller Todesfälle weltweit werden auf Adipositas zurückgeführt (https://ourworldindata.org/obesity). Bereits eine moderate Gewichtsreduktion senkt laut einer Metaanalyse von 2017 die Gesamtmortalität um 18 % [17]. Vor diesem Hintergrund sind die neuen Empfehlungen in den ESC-Leitlinien zur Adipositas besonders relevant:
Bei neu diagnostiziertem Diabetes mellitus kann eine hypokalorische Diät mit aggressiver Gewichtsreduktion zu einer Remission des Diabetes mellitus führen.
Bariatrische Chirurgie bei adipösen Hochrisikopatienten (BMI > 40) sollte erwogen werden, wenn eine Lebensstiländerung alleine nicht zu einer anhaltenden Gewichtsreduktion führt (Klasse IIa).
SGLT2-Inhibitoren und GLP-1RA können zur Reduktion künftiger kardiovaskulärer Erkrankungen und Ereignisse erwogen werden (Klasse IIb).
Bei Patienten mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung (bes. KHK) wird die Anwendung von SGLT2-Inhibitoren und GLP-1RA aufgrund des erwiesenen prognostischen Nutzens empfohlen (KlasseI).
Auch ohne manifesten Diabetes und kardiovaskuläre Organmanifestation können seit Kurzem GLP-1-Agonisten bei Patienten im Rahmen der medikamentösen Gewichtsreduktion erfolgreich eingesetzt werden. Weiterhin wird zunehmend von den klassischen BMI-Kategorien Abstand genommen und vermehrt auf den Taillenumfang fokussiert, da dieser ein Marker der zentralen Adipositas und stark mit der Entwicklung einer KHK und Diabetes assoziiert ist. Präventionsziel ist aktuell eine Gewichtsreduktion auf Normalgewicht (BMI < 25 kg/m2) und ein Taillenumfang von ≤ 94 cm bei Männern und ≤ 80 cm bei Frauen. In Deutschland sind aktuell sind die GLP-1-Agonisten bei adipösen Patienten ohne Diabetes allerdings noch nicht regelhaft zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erstattungsfähig, sondern müssen überwiegend im Einzelfallgenehmigungsverfahren beantragt werden.
2.5 Lebensstilfaktoren: Rauchen, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und psychosoziale Aspekte
Rauchen: Der Verzicht auf Rauchen ist die wirksamste aller lebensstilbasierten Präventionsmaßnahmen und wird mit einem Klasse-I-Empfehlungsgrad empfohlen. In den neuen Leitlinien wird in Modelltabellen dargestellt, welchen prognostischen Nutzen bezüglich Herz-Kreislauf-Erkrankungen gesunde Personen durch eine Rauchentwöhnung haben können. Die Förderung von Rauchentwöhnung sollte im Arzt-Patienten-Gespräch einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Medikamentöse Interventionen können eine Nikotinersatztherapie oder die Medikamente Vareniclin, Bupropion oder Cytisin, optimalerweise in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Interventionen, sein. Das Thema elektronische Zigaretten und Verdampfer wird in der Literatur kontrovers behandelt: Einerseits kann damit oft ein Verzicht auf konventionelles Zigarettenrauchen erreicht werden, andererseits sind auch e‑Zigaretten nicht gesundheitsneutral, sondern schädigen die Endothelfunktion– einen etablierten Surrogatmarker der frühen Atherosklerose [18, 19]. Elektronische Zigaretten haben proinflammatorische, prothrombotische und zytotoxische Nebenwirkungen, sodass Verkauf und Bewerbung von e‑Zigaretten ähnlichen Kontrollen wie bei konventionellen Zigaretten unterliegen sollten [20]. Die Leitlinien betonen daher zu Recht, dass die Langzeiteffekte des Rauchens von e‑Zigaretten bisher ungeklärt sind. Das Abhängigkeitspotenzial von elektronischen Zigaretten und Verdampfer ist zudem hoch, und durch verschiedene Geschmacksrichtungen ist die Nutzung insbesondere für Kinder und Jugendliche attraktiv.
Bewegungsmangel: Als weiterer wichtiger Risikofaktor wird in den Leitlinien die körperliche Inaktivität genannt. Für Erwachsene aller Altersgruppen werden mindestens 150–300 min pro Woche mäßig intensive oder 75–150 min pro Woche intensive aerobe Aktivität (oder eine entsprechende Kombination) empfohlen, um Mortalität und Morbidität zu senken. Zusätzlich zum Ausdauertraining wird empfohlen, an 2oder mehr Tagen pro Woche Krafttraining zu betreiben sowie eine aktive Tagesgestaltung anzustreben.
Bei Gehen als Ausdauertraining ist in einer Spanne zwischen 7000 und 13.000 Schritten pro Tag eine Mortalitätsreduktion dokumentiert [21], wobei eine tägliche Schrittzahl von 10.000–12.000 mit der niedrigsten Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen assoziiert ist [22]. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen muss die Intensität von Trainingsprogrammen an die individuellen Befunde angepasst werden.
Ungesunde Ernährung: Zusammen mit körperlicher Aktivität ist eine gesunde Ernährung direkt und indirekt entscheidend, um der Zunahme von Übergewicht und Adipositas entgegenzuwirken, die in der Bevölkerung Europas zu beobachten ist [23]. Weltweit ist jeder 5.Todesfall ernährungsassoziiert [24]. Trotz gut konzipierter Ernährungsstudien (z. B. PURE oder PREDIMED) [25, 26] ist jedoch häufig schwer zwischen Assoziationen und Kausalität zu differenzieren, da insbesondere Ernährungslangzeitstudien mit einem erheblichen Bias belastet sind. Zusammenfassend wird aktuell empfohlen, eine mediterrane oder ähnliche Diät zu befolgen, um das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Merkmale einer gesunden Ernährung sind laut der Leitlinien u. a., dass gesättigte Fettsäuren < 10 % der Gesamtenergiezufuhr ausmachen, dass ≥ 200 g Obst und ≥ 200 g Gemüse sowie 30 g ungesalzene Nüsse pro Tag enthalten sind, dass mit Zucker gesüßte Getränke vermieden werden und der Alkoholkonsum ≤ 100 g pro Woche beträgt. Die Umsetzung dieser Empfehlungen erfordert neben der individuellen und kommerziellen Aufklärung insbesondere gesundheitspolitische und wirtschaftliche Anreize sowie eine intensive Modifikation von Gemeinschaftseinstellung, Bildungsniveau und Stärkung der vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz.
Psychosoziale Aspekte wie Depression, Ängstlichkeit, Isolation sowie ein chronisch stressbelastetes Arbeitsumfeld weisen einen erheblichen negativen Einfluss auf metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen auf. In der ATTICA-Studie zeigte insbesondere die Depression eine Vervierfachung der kardiovaskulären Mortalitätsrate [27]. Eine adäquate Nutzung psychologischer Assessments, eine offene Kommunikation sowie psychotherapeutische und organisatorische Interventionsangebote können hilfreich sein, diese bislang nur als „confounder“ bezeichneten soziomedizinischen Aspekte zu modifizieren.
In Deutschland hat sich der Anteil adipöser Menschen in der Allgemeinbevölkerung (BMI > 30) zwischen 1985 und 2015 verdoppelt (von 12,3 % auf 25,2 %). Aktuell weist der Trend weiterhin ungebremst nach oben, sodass in der Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas ein Schwerpunkt der kardiovaskulären Prävention in Deutschland liegt.
2.5. Rehabilitation und Präventionsprogramme
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Rehabilitationsmaßnahmen (bei manifesten kardiovaskulären Erkrankungen) sowie Präventionsprogramme effektiv sind, damit Lebensstilmodifikationen, aber auch medikamentöse Prävention nachhaltig umgesetzt werden [28, 29]. Auch in der Metaanalyse zeigt sich ein signifikanter prognostischer Nutzen einer trainingsbasierten multidisziplinären kardialen Rehabilitation [30]. Die Leitlinien empfehlen daher eine multidisziplinäre „exercise-based cardiac rehabilitation (EBCR)“ und strukturierte Präventionsprogramme mit „nurses or health professionals“. Die kardiologische Phase-2-Rehabilitation erfolgt unmittelbar nach Akutereignis in Deutschland überwiegend im stationären Setting. Die Inanspruchnahmerate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist weiterhin verbesserungsfähig und wird vorwiegend durch Patienten mit koronarer Herzerkrankung determiniert (45,8 % aller Patienten der kardiologischen Rehabilitation, vgl. AWMF-S3-Leitlinie Kardiale Rehabilitation von 2020). Während die Anschlussheilbehandlung auf eine Vorbeugung einer drohenden Behinderung oder der Vermeidung der Verschlimmerung der manifesten Erkrankung fokussiert, gewinnen auch zunehmend präventive Programme für kardiovaskuläre Risikopatienten in berufsfähigem Alter an Bedeutung.
Um nichtärztliche medizinische Fachkräfte standardisiert in der kardiovaskulären Präventionsmedizin auszubilden, wurde in Deutschland kürzlich das Curriculum „Kardiovaskuläre Präventions-Assistenz“ der DGK eingeführt [31]. Die ausgebildeten „Präventions-Assistent*innen“ treten niedrigschwellig und repetitiv mit Patienten (und Angehörigen) in Kontakt und unterstützen bei der langfristigen Einstellung von Risikofaktoren. Hilfreich könnten dabei auch digitale Interventionen (wie Apps, e‑Learning, E‑Mails) sein, deren Effekt derzeit in der randomisierten NET-IPP(NEw Technologies in Intensive Prevention Programs)-Studie in Deutschland untersucht wird [32]. Die Anwendung telefonischer Unterstützung von Präventions- und Rehabilitationsprogrammen oder tragbarer Aktivitätstracker (sog. Wearables oder Smartwatches) mit dem Ziel einer besseren Compliance mit Lebensstiländerungen –besonders körperlicher Aktivität– wird in den 2021er Leitlinien nun erstmals empfohlen (Klasse IIa).
3. Bevölkerungsbezogene Prävention
In den neuen Leitlinien wird herausgestellt, dass Politik, Wirtschaft, Medien und Bildungswesen eine große Verantwortung tragen, um in der Bevölkerung, insbesondere bereits bei Kindern und Jugendlichen, kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Rauchen, körperliche Inaktivität, ungesunde Ernährung und Adipositas zu reduzieren.
Es ist allerdings kritisch zu sehen, dass –im Gegensatz zu den vorherigen Versionen der Leitlinien– die einzelnen Aufforderungen zur bevölkerungsbezogenen Prävention nun nur noch im Supplement der Leitlinien zu finden sind.
In Deutschland ist im europäischen Vergleich eine schlechte Position bei den öffentliche Maßnahmen zur Tabakprävention auffällig (https://www.tobaccocontrolscale.org), was sich in einer weitgehenden Stagnation des Nikotinkonsums auf hohem Niveau abbildet. Insbesondere in Deutschland ist somit eine Intensivierung der Tabakprävention zu fordern. Eine konsequentere Umsetzung von Nichtraucherschutzgesetzen sowie eine Erhöhung der Preise für Tabakwaren sind hierbei wichtige Punkte, ebenso wie ein Verbot der öffentlichen Werbung für Tabakwaren. Auch die Förderung von gesunden Lebensmitteln sowie die Alkoholprävention durch öffentliche Maßnahmen wie steuerliche Mehrbelastung gesundheitsschädlicher Produkte und Werbeverbote sind in Deutschland noch entwicklungsfähig.
Eine zunehmende Zahl von Studien zeigt aber auch die Bedeutung des Umweltschutzes als Maßnahme zur kardiovaskulären Prävention [33–35]. Es ist mittlerweile gut belegt, dass Luftverschmutzung, insbesondere Feinstaubbelastung, Klimawandel, Lärm- und Lichtbelastungen zu einer Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen [36]. Die neuen Leitlinien betonen deshalb mit einer Klasse-I-Empfehlung, dass auch Umweltschutzmaßnahmen mit dem Ziel einer Reduktion von Feinstaub und gasförmiger Emissionen eine wichtige Bedeutung für die weitere Verringerung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität besitzen.
Fazit für die Praxis
Mit den neuen ESC-Präventionsleitlinien ist auch das zentrale Werkzeug zum kardiovaskulären Risikoassessment grundlegend überarbeitet worden: SCORE2 beruht nun auf aktuellen europäischen Kohorten wie der UK Biobank und der Emerging Risk Factor Collaboration. SCORE2 berechnet nun nicht mehr wie SCORE das 10-Jahres-Mortalitätsrisiko, sondern das 10-Jahres-Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Damit gleicht sich SCORE2 an andere Risikosysteme wie den Framingham Risk Score an. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass nun mit SCORE2-OP auch für ältere Menschen > 69Jahre das individuelle Erkrankungsrisiko berechnet werden kann. Weitere Veränderungen betreffen die altersdynamischen Schwellen für Risikoklassifizierung und den „2-Step-Approach“. Dieser gibt obligate Präventionsziele für alle Patienten vor. Erst in einem zweiten Schritt sollen auf individueller Entscheidungsbasis (Komorbiditäten, Patientenwunsch, Lebenszeitgewinn durch Prävention) die optimalen Präventionsziele angestrebt werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
Den Interessenkonflikt der Autoren S.Gielen, H.Wienbergen, R.Reibis, W.Koenig, J.Weil und U.Landmesser finden Sie online auf der DGK-Homepage unter http://leitlinien.dgk.org/ bei der entsprechenden Publikation.
Footnotes
Der Verlag veröffentlicht die Beiträge in der von den Autor*innen gewählten Genderform. Die Verwendung einer angemessenen gendergerechten Sprache, um Menschen in ihrer Vielfalt wertschätzend anzusprechen, wird begrüßt.
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